Donnerstag, 2. Januar 2014

ALLEN - SCHÖN UND SCHRECKLICH

VOM NUTZEN DER SCHÖNHEIT AUF DEM WEG VON A NACH B


Zwischen prosaischem Straßenbegleitgrün und landschaftsarchitektonischem Schmuck - bekämpft von Effizienzstrategen in Administration und bei Verkehrspolitikern, gehypt von Naturfreunden und Ästheten, gelangen die oft Geringgeschätzten und Vernachlässigten allmählich zurück ins Bewußtsein nicht allein einer interessierten Öffentlichkeit 





„Es läuft der Frühlingswind / Durch kahle Alleen, / Seltsame Dinge sind / In seinem Wehn« fühlte Hugo von Hofmannsthal 1892 im Gedicht „Vorfrühling“. Reiste er in diesen Tagen auf baumgesäumten Straßen durchs Land, möchte der Wiener Empfindsame wohl eher befremdliche Dinge im Windeshauch sehn. Präsentieren sich die „grünen Adern der Kulturlandschaft“ zuweilen doch recht gefleddert und ausgedünnt. Sogar an der Vorzeigestrecke dieses „Teils unserer europäischen Kulturgeschichte“, der „Deutschen Alleenstraße“ von Konstanz bis Rügen ließen sich beispielhafte Schadensregister erstellen: Dürre Zweige, zerzauste Kronen, wulstige Wundnarben an Stamm und Astgabelungen, bisweilen gar lange Lücken im Grün-Spalier – Spiegel widersprüchlicher Wertschätzung dieser denkmalwerten Pretiosen, welche die Vorfahren über Jahrhunderte angelegt, gehegt und gepflegt haben. 


Im mobilitätsseligen Wirtschaftswunderwestdeutschland abgetan als Reminiszenz nostalgischer Romantiker, wurden sie gnadenlos dem Modernisierungsmoloch geopfert: Statt Schattenspendern sah man in den Bäumen Todesfallen für den Fortschritt, und in den Wohnstätten schwirrender Kleinfauna Hindernisse einer Strukturoffensive; in den siebziger Jahren wurden sogar Abholzprämien für Obstbaumalleen gezahlt! Automobile Logistik rangierte vor artengerechter Logik. „Erst wenn der letzte Baum gefällt...“ Nicht zuletzt dem unerforschlichen Zeitgeist und seinem Wendewandel in Deutschen Landen ist zu danken, daß die vermeintliche Indianerprophetie nicht Ultima ratio wurde: Im Windschatten des Kapitalismus nämlich konnten in den Biotopen des einstigen DDR-Sprengels prächtigste Paradestücke überdauern; Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, die beiden ärmsten Adoptivländer, prunken mit den reichsten Alleenschätzen. Ein verfluchter Segen freilich: Ist das ein- bis vierreihige Wegbegleitgrün geschichtstrunkenen Alt-Wessis touristische Attraktion, wird es Hartz-Vier-beschwipsten Jung-Ossis oft genug zum tödlichen Aggressor. Welchem tabularasende Verkehrsplaner und willfährige Straßenbauämter deshalb allzugern seinerseits nach dem Leben trachten; und ihm seit der Wiedervereinigung bereits beträchtliche Breschen schlugen.



Doch schon im ersten Wendejahrzehnt formiert sich Widerstand. Bundesweit erkannten Bürgerinitiativen und Umweltgruppen welch spezielle Schätze ex oriente auf uns gekommen waren und was andererseits in der „Alt-Republik“ ein Mauerblümchendasein fristete. Mit einschlägig formulierten Forderungskatalogen erstürmten sie in manch obersten Landes- und Bundesgremien offene Türen. Gleich 1990 entstand ein Gesetz zur „Deutschen Bundesstiftung Umwelt“ aus der Erkenntnis, „daß die Umwelt des Menschen auch die gewachsene historische Kulturlandschaft mit ihren Denkmälern umfaßt.“ Zu deren „ausgewählten Aspekten“ erklärtermaßen Alleen gehörten, welche es zu fördern und bewahren gelte „als Ausdruck historischer Identität und Kontinuität“. Eine gräbenüberspannende Einsicht, denn sogar die von Denkmal- und Umweltschützern scheel beäugten Autolobbyisten vom ADAC „fürchteten um die natürliche Schönheit der Landschaften“, taten sich mit der „Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW)“ sowie dem Kuratorium „Alte liebenswerte Bäume in Deutschland e.V.“ zusammen und riefen die „Arbeitsgemeinschaft Deutsche Allenstraße“ ins Leben: Über zweitausendfünfhundert Kilometer schlängelt sich seit 1993 deren grüner Lind(en)wurm durchs Land, wovon etwa zwei Drittel komplette Alleen sind, der Rest ein Work in progress; besonders in den westlichen Mittel- und Südstaaten Hessen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg warten weite kahle Strecken darauf, neu aufzublühen. 
Allein, cui bono? Wem nützt, daß tausende Kilometer eigentlich einzig effizienter Verbindung von A nach B dienender Auto-Trassen gesäumt sind von hoch aufragendem Straßenbegleitgrün? Wem frommt, kranke oder ramponierte Bäume zu ersetzen, kostenträchtige Pflanzungen herzustellen und zu unterhalten bis Sankt Ultimo? Zu schweigen vom Unrat, der von den Bäumen fällt, nicht allein weil er zu beseitigen ist, sondern überdies die Verkehrsicherheit beeinträchtigt. Und schließlich – horribile dictu – wer verantwortet den Blutzoll, den all die hoffnungsberauschten Jungmänner entrichten mit ihrem Opfer vor dem Baum-Altar? 


Faustische Fragen, gestellt vor allem von Effizienzstrategen in Verwaltungen und Versicherungen, welche sogleich horrende Antworten mitliefern: „10.000facher Tod am Baum“ zum Beispiel, oder mindestens „66.000 Schwerverletzte durch Aufprall auf Bäume in fünf Jahren.“ Diffiziler, ja nachgerade diabolisch argumentieren die „Empfehlungen zum Schutz vor Unfällen mit Aufprall auf Bäume" (ESAB), der „Forschungsgesellschaft für Strassen- und Verkehrswesen“ im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums: Neu- oder Nachpflanzungen von Alleebäumen sollten in einem Mindestabstand von viereinhalb Metern zum Fahrbahnrand erfolgen. Was sich so anscheinend Allen-affirmativ gibt, ist im Straßenbaualltag indes vollendete Verhinderungsstrategie, befinden sich solch ausgreifende Randstreifen doch seltenst im Besitz und somit außerhalb des Zugriffs der straßenbauenden Behörden. Dies sowie weitere Ausführungen dieses Papiers, wie zum „Entfernen von Bäumen“, legt nahe, daß Gutachtern wie beauftragendem Ministerium die ganze Alleenbaum-Angelegenheit eher suspekt scheint: Über allem nämlich klingt der Tenor des vorauseilenden Verdikts: „Das Unfallgeschehen im Zusammenhang mit Unfällen mit Aufprall auf Bäume ist nach wie vor äußerst besorgniserregend.“

Gewiß nicht geringzuschätzen. Indes „werden die Unfälle doch nicht von den Bäumen verursacht, sondern von den zu schnellen und oft betrunkenen Autofahrern“, meint ein unfreiwilliger Wiedergänger längst obsolet geglaubter Diskussionen: Leszek Szatkowski, der Verwaltungschef der Wojwodschaft Ermland-Masuren in Olsztyn/Allenstein kämpft gegen die anscheinend nun nach Polen emigrierten Causae idiotae regulatorii vom Stamme Windmühlenflügel. Indes, was kümmern uns die Absonderungen eines Verwalters deutscher Kultivierungsgeschichte weit hinten im so fernen Nachbarland? Nun, er kämpft gegen die gleiche Ignoranz, und er hat recht. Das Problem nämlich wäre nicht aus der Welt geschaffen, versetzten wir die Bäume nur ein wenig weiter weg: Ob fünfzig Zentimeter oder fünf Meter vom Fahrbahnrand – die Begegnung zweier so ungleicher Gegner wie Auto und Baum wäre kaum weniger martial. 



Das Salz ist dem Alleenbaum sein Tod
Unausweichlich? Vor Abgründen und an Brücken sind Sturzsicherungen seit Jahrzehnten Standard. Brandenburgische Ingenieure haben jüngst spezielle Dämpfungssysteme für den Aufprallschutz an baumbestandenen Straßen entwickelt. Warum also nicht Leid verhindern oder mindern und Leitplanken dort errichten, wo Appelle verhallen? Eine Erkenntnis, die endlich Einzug gehalten hat in Köpfen und Vorschriften zuständiger Behörden. Womit die Bedrohungsszenarien durch die vereinigten Sensenmänner einigermaßen entschärft wären. Und es zur Bestandspflege wie der gedeihlichen Entwicklung neuer Anlagen konsequenten Handelns aus der Einsicht bedürfte, daß das Auftausalz eine mindestens so radikale Remedur gegen das Rutschen der Räder wie tödliche Tortur für das Gedeihen der Grünlinge darstellt. Zudem stetes Körnchen neben dem Baum auch Grund- und Oberflächenwasser killt. Mit dem Effekt eines kostentreibenden Circulus vitiosus intensiverer Pflege kranker Pflanzen oder gar deren Ersatz.  



Die guten Gründe gegen baumbesäumte Straßen aufgelistet und aus dem Weg geräumt allein, ist noch keine Argumentation für sie. Gibt es denn über die Teilhabe an „historischer Identität und Kontinuität“ im Rahmen „europäischer Kulturgeschichte“ hinaus einen eigentlichen „letzten Grund“ dafür, Alleen auch heute noch zu pflegen und anzulegen? Gewiß gab es in der Vergangenheit ökonomische Motive, verkehrstechnische und praktische. Pflanzten bereits Ägypter, Perser und Römer Bäume entlang ihrer Straßen als „die Landschaft ordnendes, gliederndes wie verbindendes System“, kannten nachfolgende Kulturen dies nicht. In Europa entdeckte man erst spät diesen Aspekt der Landschaftsarchitektur. Seit der Renaissance verpflichteten Orts- und Landesherrschaften Bürger und Untertanen Straßenbäume zu pflanzen. Im südbadischen Britzingen waren um 1604 „alle Wege des Dorfes mit Obstbäumen besetzt.“ Preußenkönig Friedrich II. befahl 1754, „daß sämmtliche Heer- und Poststraßen mit nutzbaren Bäumen bepflanzet werden sollen.“ Zur Versorgung mit Brennholz oder Futter, wie beispielsweise von Weiden, die zugleich Flechtmaterial für Damm- und Straßenbau sowie Korbwaren lieferten; oder mit Maulbeerbäumen zur Seidenraupenzucht – noch im 20. Jahrhundert erhoffte Nazideutschland sich davon eine autarke Fallschirmseidenproduktion. 


Doch vor das Schaffen haben die Musen das Schauen gestellt, buchstäblich: Die ersten Alleen entstanden im Italien der Neuzeit als Sichtachsen von und zu Villen und Castelli, auf denen sich ihre Nobilitäten in freier Natur an dem für das Tafelbild neuentdeckten spettacolo der Perspektive ergötzen konnten. Allee – entstanden aus dem französischen aller, gehen, sich ergehen, lustwandeln – wird erstmals 1536 von Charles Estienne im Gartenbuch „De re hortensi libellus“ verwendet, wobei der Begriff zunächst noch auch eine einfache Promenade ohne Baumbegleitung meinen konnte. Rasch jedoch ging die Bezeichnung eine untrennbare Liaison ein mit dem baumbestandenen Weg – anfangs allein in privaten Gärten und Parks, bald auch an Landstraßen; die erste scheint 1612 die Hellbrunner Alle in Salzburg gewesen zu sein, und Notorius Wallenstein legte 1630 im böhmischen Gitschin eine vierreihige Lindenallee an. Welche der brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm 1647 nachahmend übertrumpfte mit der Berliner Straße unter den Linden, deren gleich sechs Reihen Linden- und Nußbäume als majestätische Avenue d’Arbore von der Residenz hinausführte in die Latifundien der brandenburgischen Streusandbüchse. 


Gewinn in Grazie
Dienten Alleen ursprünglich der Illustration einer Idee, als Insignium herrschaftlicher Domizile, welche als strammstehende Spaliere stummer Baumsoldaten den Point de vue gaben, entdeckte man bald den ästhetischen Mehrwert der schattenspendenden Sonnenschirme für Spaziergänger, Roß und Reiter; sowie den bezwingenden Charme einer von baumgefaßten Kompartimenten gegliederten Landschaft, durch die sich grüne Serpentinen im Rhythmus der William Hogarthschen Line of Beauty and Grace winden. Bisweilen einreihig, meist jedoch parallel auf beiden Seiten, konnte ihre Schönheit selbst profane Nutzanwendung nicht beeinträchtigen, im Gegenteil: In Grazie erworbene Gewinne erfreuen um so mehr. 
Diese könnten auch heutigen Landes- und Verkehrsplanern Ansporn sein, räudige Baumbegleiter am Straßenrand zu ersetzen, lückenhafte Alleen eher rascher als später zu komplettieren oder gar ganzen Überlandstraßen wieder begleitenden Baumschmuck zu gönnen. Wirken doch vergammelte oder gar fehlende Baumreihen eher abschreckend, ja sogar wirtschaftsrelevant schädlich, was Tourismus- und Verwaltungsfachleute wie besagter Wojwode nur zu gut wissen. Reiseunternehmen drohen, ihre Touren ins Ermland zu stornieren, weil gerade die Alleen der masurischen Landschaft ihren unwiederbringlichen Reiz gegeben hätten: „Wenn das so weitergeht, müssen wir die Gegend um Nikolaiken demnächst weiträumig umfahren.“
Ereignisse und Entwicklungen der letzten Jahre hierzulande lassen hoffen, daß uns so etwas erspart bleiben könnte. Abgesehen vom Prestigeprojekt der „Deutschen Alleenstraße“, die auf ihrer Tour d’Allemagne acht Bundesländer wie an einer Perlenschnur aufreiht, und an deren Komplettierung nachdrücklich gearbeitet wird, ist man gerade in den Regionen der Reconquista bemüht, die erhabene Erbschaft nicht nur zu erhalten, sondern nachhaltig zu pflegen und sogar auszubauen. Ungeachtet ihrer schmalen Portefeuilles sorgen dortige Behörden nach Bestandsaufnahme und perspektivischer Projektion dafür, auch künftig mit dem Flair stilbewußter Landschaftsplanung touristische Anziehungskraft zu entfalten. So werden wohl an den großen Fernverkehrsstraßen lediglich „mosaikartig angelegte Strauchpflanzungen und Grasfluren die Funktionen der Landschaftsgestaltung und der Verkehrsleitung“ übernehmen, da man sich dem „Trend der Verlagerung von Alleenerhalt und -entwicklung vom übergeordneten zum untergeordneten Netz“ nicht entgegenstemmen könne. Doch ist man beispielsweise in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern als den reichsten Straßenbaumbesitzern energisch entschlossen „eine große Alleenkoalition zu schmieden, um die über Jahrhunderte gewachsene Alleenlandschaft auch unseren Kindern zu bewahren.“ Läuft ein Hoffnungswind / Durch alte Alleen...
                                                                                                                                          
                                                                                                                            Werner Jacob

Alles Wissenswerte zum Thema im Kompendium: Alleen in Deutschland. Bedeutung, Pflege, Entwicklung, hg. von Ingo Lehmann und Michael Rohde, Edition Leipzig, 2006, 248 Seiten, 165 Abb., 29,90 Euro, sowie unter: http://allee.de/ und: http://www.alleenschutzgemeinschaft.de/, auch: http://www.alleen-fan.de/, die Webseite des Bundesumweltministeriums.